Autorin Sonja Paulus nutzte die Zeit zwischen zwei Jobs für zwei Monate Freiwilligenarbeit in Chile. Sie entschied sich für ein Projekt in der Natur und landete in einer Blockhütte in den Bergen. Was sie unter Kondoren und Cowboys lernte: weniger nachdenken. Einfach machen!
Nach 27 Stunden Reisezeit fegt die Aufregung jede Müdigkeit weg. Mit meinem riesigen Rucksack bepackt, an dem meine noch sauberen Bergschuhe baumeln, starte ich vom Flughafen in Santiago de Chile ins Abenteuer. Und das fängt schon bei der Verständigung an. Mit meinem Leistungskurs-Spanisch scheitere ich schon beim Versuch, ein Busticket zu kaufen. Ich verstehe: nada. Was mir vorher leider keiner gesagt hat: Die sprechen hier unheimlich schnell und verwaschen.

Santiago de Chile: voll, laut und hektisch. Kein Wunder, dass am Wochenende viele in die nahe gelegenen Berge flüchten. Foto: iStock
Ankunft zur Freiwilligenarbeit in Chile
Irgendwie erreiche ich den Treffpunkt in der Fünf-Millionen-Stadt Santiago de Chile, an dem mich Victor abholen soll. Victor ist Papa eines kleinen Sohnes und Chef der Ranger im Naturschutzpark Yerba Loca* in den Kordilleren, einer Gebirgskette in den chilenischen Anden. In den nächsten zwei Monaten soll ich an einer Broschüre für den Park mitarbeiten. Victor ist mir gleich sympathisch. Auch ihn verstehe ich kaum. Wir nicken freundlich, er lacht viel. Fürs Erste genug, um sich warm empfangen zu fühlen.
Schnell wechseln wir zu Englisch: Fünf Tage die Woche arbeitet er auf Yerba Loca mit zwei anderen Rangern, Ernesto und Marcel, und Rangerin Muria. Zu ihren Aufgaben gehört, den Eintritt für den Naturpark zu kassieren und die Camper und Wanderer einzuweisen. Auch das Blockhaus-Keeping, in dem die Ranger ihre Station haben, zählt dazu. Vor allem aber müssen sie Wanderrouten und Verkehrswege regelmäßig auf Sicherheit prüfen.

Karg und trotzdem unglaublich artenreich: Der Naturpark Yerba Loca in Chile. Foto: yerba loca
Kein Handy, kein Strom, viel Koffein
Nach einstündiger Autofahrt finde ich mich an meinem Arbeitsplatz für die nächsten acht Wochen wieder: ein Blockhaus ohne warmes Wasser und Handyempfang. Strom gibt es nur in Ausnahmefällen.
An einem geschätzt 20 Jahre alten Computer soll ich Bilder der unzähligen heimischen Berg- und Wiesenblumen für die geplante Infobroschüre auswählen. Wenn der mit Benzingemisch betriebene Generator läuft, wackelt die ganze Hütte und es riecht wie auf der Autobahntankstelle. Also läuft er eigentlich nie. Victor beschließt, dass die Broschüre nicht so wichtig ist. Es gebe anderes zu tun.
Also erst mal einen Mate-Tee trinken. Der herbe, koffeinhaltige Sud wird mein neuer Kaffee werden. Ihn richtig zuzubereiten, ist eine Kunst. Ist das Wasser einen Tick zu heiß, schmeckt er ziemlich bitter. Gießt man zu schnell Wasser auf, wirbelt es die Feinpartikel auf – man kommt aus dem Husten nicht mehr raus.

Zeit für einen Mate-Tee? Immer. Traditionell in einer Kalebasse mit Bombilla (Trinkhalm). Schmeckt’s? Man gewöhnt sich dran. Vor allem an den Koffeinkick. Foto: iStock
Nächtlicher Besuch von wilden Pumas
Meistens sind wir zu dritt. Ernesto, Marcel und Muria arbeiten nebenberuflich auf Yerba Loca und wechseln sich schichtweise ab. Auch nachts bleibt immer jemand hier. Damit ich nicht alleine bei den Pumas ausharren muss, wie sie verheißungsvoll betonen.
Ich bekomme ein gemütliches, kleines Zimmer. Möbel und Wände sind aus Holz, die Bettwäsche ist rotweiß kariert, einige Bücher stehen auf einem Holzregal. In der ersten Nacht liege ich lange wach. Meine Lunge drückt vom ungewohnten Höhenunterschied. Ich muss immer wieder nach Luft schnappen und öffne das Fenster über meinem Bett. Tatsächlich raschelt und scharrt es unter dem Blockhaus. Ob Pumas durch offene Fenster springen können?
Während ich die Wahrscheinlichkeiten von möglichem Ersticken und einer Puma-Attacke abwäge, schlafe ich ein. Am nächsten Morgen entdecke ich, dass sich ein Wurf wilder Hundewelpen unter unserer Hütte häuslich eingerichtet hat und für die nächtliche Ruhestörung verantwortlich war. Sobald ich mich nähere, verkriechen sie sich.
Wilde Tiere und andere Mutproben
Das Leben hier ist rustikal. Auch das Duschen. Weil ich nicht als zarte Stadtpflanze dastehen möchte, ignoriere ich die Empfehlung, für die Haarwäsche Wasser im Kocher warm zu machen – schon wegen des Generators aus der Hölle. „Bergquellwasser, wie kalt kann das bitte sein?“ Nach der ersten Haarwäsche weiß ich es: Es fühlt sich so an, als würde mein Gehirn schockgefrostet. Notiz für die nächste Fahrt runter in die Stadt: Trockenshampoo besorgen!
Pumas treffe ich weiterhin keine. Dafür begegnen mir andere haarige Bestien. Bei der ersten Vogelspinne, die am Wegrand lauert, springe ich noch panisch zur Seite. Bei dem etwa vierten Zusammentreffen dieser Art stelle ich fest, dass die Spinne gar nicht an mir interessiert ist und lieber die Sonne auf dem Pelz genießt. Irgendwie sind sie ja ganz putzig mit ihren dunklen Knopfaugen. Meine Schuhe überprüfe ich trotzdem vor dem Anziehen.

Im Naturreservat befindet sich eine Aufzuchtstation für Kondore, die in Chile als gefährdete Art gelten. Foto: iStock
Zu Besuch bei den Kondoren
Vieles hier ist improvisiert. Das gilt auch für meine Aufgaben während der Freiwilligenarbeit. Ein Briefing gibt es nicht. Ich mache mich da nützlich, wo ich kann. Übernehme mal die Zubereitung der Mahlzeiten, teile Infobroschüren für die Besucherinnen und Besucher aus oder fege die Veranda. Bis es eines Abends heißt, ich solle mir früh den Wecker stellen.
Am nächsten Morgen steigen wir in einen Pick-up, auf dessen Ladefläche eine Plastikplane liegt. Nach ein paar Kilometern die Schotterserpentinen hinauf halten wir. Was nun folgt, kapiere ich erst, als Victor und Ernesto etwas Schweres unter der Plane hervorzerren. Knapp vor meinen Füßen landet ein Ziegenkadaver auf der Straße. Ein röhrendes Geräusch entweicht dabei aus der durchtrennten Luftröhre. Ich dürfe mit anpacken. Okay. Plausibel erscheint mir, einen Huf zu nehmen.
Wir schleifen das tote Tier den Hang hoch zu einem Gehege. „Fressen für die Kondore.“ Es ekelt mich nicht – vielleicht weil mir hier, mitten in den Kordilleren, der Kreislauf der Natur logisch und richtig erscheint. Die vom Aussterben bedrohten Greifvögel, deren Flügelspannweite ausgewachsen gut drei Meter betragen kann, so nah zu erleben, lässt mich das Schicksal der armen Ziege schnell vergessen.
Im Galopp durch die Berglandschaft
Vor allem lerne ich während meiner Freiwilligenarbeit in Chile: Denk nicht zu viel nach, vertraue einfach. Seit ich mit vier Jahren auf einem Volksfest beim Ponyreiten in Tränen ausgebrochen bin, hat mich kein Pferderücken mehr gesehen. Irgendwie hieven mich Victor und Arriero Jaime auf Pico, ein treu dreinschauendes, braunes Pferd. Victor schwingt sich auf ein größeres, schnalzt mit der Zunge – und wir gehen los. Besser: Pico geht los. Ich sitze schlaff im Sattel und werde mitgerissen, unter Pinien hindurch, am Bachufer entlang, über Stock und Stein.
Ursprünglich sind Arrieros in Südamerika Pferde- oder Maultiertreiber, die Lasten wie Mais, Kaffee oder Getreide transportieren. Hier auf Yerba Loca haben sich die Arrieros an den Tourismus angepasst und vermieten Pferde für Ausflügler. Mit ihren Lederhüten, flatternden Ponchos und Westernboots sehen sie wie Cowboys aus.
Victors Pferd geht über in den Galopp, Pico mit mir hinterher. Wir haben Frühling. Alles grünt und blüht auf Yerba Loca. Ein schöner Kontrast zu der sonst eher kargen, westernartigen Landschaft. Als wir stoppen, macht sich das Adrenalin bemerkbar. Spanische Worte sprudeln aus mir heraus und ich realisiere, dass ich mich mit Victor schon richtig gut verständigen kann. Offenbar habe ich mich an den chilenischen Sprech gewöhnt – oder der Galopp hat ein paar Blockaden gelockert.

Arrieros sind eine Art chilenische Cowboys. Sie leben gern zurückgezogen, was aber nicht heißt, dass ihnen Tourismus fremd ist. Foto: iStock
Abschied von Yerba Loca
An meinem letzten Abend machen wir Asado. Das bedeutet hier: Ein gigantisches Stück Rindfleisch wird auf einem rostigen Blech auf dem Boden gegrillt, gewürzt mit lediglich etwas Salz. Das beste Fleisch meines Lebens! Victor spielt Gitarre. Muria hat Rotwein mitgebracht, in den Marcel ordentlich Cola kippt – zu meinem Entsetzen. Doch ehrlicherweise schmeckt sogar das hier ziemlich gut.
Reiner Zufall, doch mir erscheint es hochsymbolisch, dass ausgerechnet an meinem letzten Tag einige der Kondore freigelassen werden sollen, auch wenn ich nicht mehr dabei sein werde. Und als wüssten sie, dass ich gehe, lassen sich zum ersten Mal die Welpen unter unserem Haus blicken. Sie jaulen, als ich meinen Rucksack in den Pick-up lade.
Zu Hause nehme ich erst mal eine richtig lange, heiße Dusche.
Text: Sonja Paulus Aufmacherbild: yerba loca
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Chile Audio-Datei / Hörbeispiel Chile?/i (Aussprache: deutsch auch oder amtlich República de Chile (deutsch Republik Chile), ist ein Staat im Südwesten Südamerikas, der den westlichen Rand des Südkegels (Cono Sur) des Kontinents bildet. Chile erstreckt sich in Nord-Süd-Richtung zwischen den Breitengraden 17° 30′ S und 56° 0′ S; somit beträgt die Nord-Süd-Ausdehnung rund 4200 Kilometer. In west-östlicher Richtung liegt Chile zwischen dem 76. und dem 64. westlichen Längengrad und besitzt eine Ausdehnung von durchschnittlich weniger als 200 Kilometern. Wegen dieser – durch seine Lage am Westhang der Andenkordillere bedingten – ungewöhnlichen Form wird Chile schon seit seiner Entdeckung häufig „das langgestreckte Land“ genannt. Das Land grenzt im Westen und Süden an den Pazifischen Ozean, im Norden an Peru (auf einer Länge von 160 Kilometern), im Nordosten an Bolivien (861 km) und im Osten an Argentinien (5308 km). Die Gesamtlänge der Landgrenzen beträgt 6329 Kilometer. Daneben zählen die im Pazifik gelegene Osterinsel (Rapa Nui), die Insel Salas y Gómez, die Juan-Fernández-Inseln (einschließlich der Robinson-Crusoe-Insel), die Desventuradas-Inseln sowie im Süden die Ildefonso-Inseln und die Diego-Ramírez-Inseln zum Staatsgebiet Chiles. Ferner beansprucht Chile einen Teil der Antarktis. Über die vollständig zu Chile gehörende Magellanstraße hat das Land Zugang zum Atlantischen Ozean.