Die Berlinerin Amelie Rother wollte das Radfahren nicht als Männerprivileg akzeptieren und setzte sich Ende des 19. Jahrhunderts als eine der ersten Frauen öffentlich aufs Fahrrad. So wurde sie in Deutschland zu einer Ikone der Frauenmobilität.
Im ausgehenden 19. Jahrhundert war Radfahren hierzulande allein Männern vorbehalten. Für Frauen galt es als ungesund, unschicklich und sogar unmoralisch, in der Öffentlichkeit auf ein Fahrrad zu steigen. Amelie Rother wollte dieses ungeschriebene Gesetz nicht akzeptieren. Die streitbare Berlinerin hatte genug vom Stubenhocker-Dasein der typischen Großstädterin und unternahm zu Beginn der 1890er-Jahre auf einem damals als besonders chic geltenden Dreirad zunächst Touren durch stille Waldgebiete. Später fuhr die mutige Journalistin damit durch die Straßen der Stadt – begleitet vom Geschrei und Geschimpfe aufgebrachter Berliner Bürger.
Beschimpfungen und unbequeme Mode
Nicht nur die empörten Reaktionen der Passanten schmälerten das Vergnügen solcher Radausflüge, auch die Damenmode dieser Epoche war beim Radeln hinderlich. Im eng geschnürten Korsett ließ sich nicht frei atmen, die langen, mehrlagigen Unter- und Oberröcke erschwerten bei den sehr hohen Dreirädern sowohl das Auf- und Absteigen als auch das Fahren selbst. Folglich wurden die Röcke erst gekürzt und später durch bequemere Modelle ersetzt, unter denen die Frauen weite Radfahrer-Pumphosen trugen. Das Schnürkorsett wurde kurzerhand entsorgt.
Radrennsport für Frauen
Das Radfahren im Alltag genügte Amelie Rother bald nicht mehr. Ihr nächstes Ziel war der Rennsport. In Belgien und Frankreich war der Frauenradrennsport Ende des 19. Jahrhunderts bereits etabliert, es gab sogar Profi-Rennfahrerinnen. In Deutschland war die Teilnahme von Frauen an Radrennen hingegen eher die Ausnahme, das erste reine Damenrennen wurde 1890 nahe Leipzig auf Dreirädern ausgetragen.
Im September 1893 fand in Berlin auf der Radrennbahn Halensee das erste deutsche Damenradrennen auf modernen Niederrädern statt. Amelie Rother ging als eine von acht Frauen an den Start und schrieb im 1897 erschienenen Buch „Der Radfahrsport in Bild und Wort“: „Wir alten Berliner Rennfahrerinnen wußten ganz genau, was wir thaten, als wir 1893 auf die Bahn hinaustraten. Wir wollten weder unsere Reize den Zuschauern präsentieren, für Mütter heranwachsender Töchter schon eine etwas schnurrige Zumutung, noch uns an den Preisen bereichern, sondern wir wollten dem Publikum zeigen, dass wir Herrinnen unserer Maschinen waren und den Damen zurufen: Hier, seht her und macht es uns nach! Beides ist uns gelungen.“ Ein Jahr nach dem Rennen gründete die Radfahr-Pionierin mit sieben weiteren Frauen den ersten Damenradclub Berlins. In den zahlreichen bereits existierenden Radclubs waren Frauen nicht zugelassen.
Die Eroberung der Straße mit dem Fahrrad durch das weibliche Geschlecht erfolgte zeitlich parallel zur internationalen Emanzipationsbewegung. Der generelle Kampf für Frauenrechte stand für Amelie Rother jedoch nicht im Vordergrund. Ihr Einsatz bezog sich ausschließlich auf das Fahrradfahren – und bereitete den Weg für ein neues Zeitalter gleichberechtigter Mobilität.
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