Lange herrscht Ruhe, dann folgen konzentrierte Anspannung, eine rasante Fahrt und an deren Ende der Aufprall auf eine betonharte Wand. Wie lebt man als Dummy im Landsberger Technikzentrum des ADAC? Ein Gespräch mit dem aktuellsten Modell Thor 50% über seinen Arbeitsalltag und seine Familie.
ADAC Redaktion: Wie darf ich Sie ansprechen?
Thor 50%: Ich bin Thor 50%, das hier unten ist mein Sohn. Mit ihm gehe ich gleich in die Crashhalle. Wir testen heute Kindersitze, das ist immer sehr aufregend für den Kleinen. Diese Tests machen wir beim ADAC am häufigsten, 600 Mal pro Jahr gurten die Projektleiter die Kinder-Dummys in den Sitz. So oft macht das kein Hersteller.
Warum machen Sie diese Tests denn nicht selbst?
Der Kindersitz-Test ist extra für Kinder-Dummys gemacht. Ich liefere zwar mehr Ergebnisse, passe aber nicht in den Kindersitz.
Ist das nicht gefährlich für Ihren Sohn?
Nein. Vorne auf meinen Arbeitsplatz wirken im Vergleich dazu ganz andere Kräfte: Sicherheitsgurte über der Brust, Airbags, die dir ins Gesicht knallen, splitternde Scheiben und so. Die Eltern-Generation, Hybrid II und Hybrid III, war da auch noch etwas leichter aus dem Konzept zu bringen als ich. Die haben einfach weniger Sensoren und sind nicht so biofidel, also bildeten den Menschen nicht so gut ab wie ich.

Und Ihre Großeltern?
Die existieren gar nicht. Früher, in der grauen Vorzeit der Crashs, Mitte, Ende des letzten Jahrtausends wurde mit Tieren, Toten, Puppen und sogar Freiwilligen gearbeitet. Natürlich nicht beim ADAC. Diese Zeit war für alle nicht so schön. Daher entwickelte die US-Luftwaffe uns Dummys, zunächst für die Schleudersitze in Flugzeugen. Mit Autos arbeiten wir seit den 1950er-Jahren.
Was kostet denn die Entwicklung eines Dummys?
Heute ist sie sehr teuer, meine Entwicklung kostete einen zweistelligen Millionenbetrag.
Wow, wie kommen denn solche hohen Kosten zustande?
Da stecken tausende Tests hinter. Die Gewichtsverteilung muss genau passen, das Material stimmen, in meinem Inneren sind ausgebuffte Kabelkanäle installiert. Die dürfen ja beim Crash nicht stören. Dann braucht es Zulassungen weltweit. Zusammen dauert das schon mal über 20 Jahre.
Was muss der ADAC denn für einen Dummy wie Sie investieren?
Ich koste eine knappe Million Euro. Dazu kommt das regelmäßige Kalibrieren für 20.000 Euro, quasi Körperpflege.

Das ist aber sehr teuer!
Ja. Einerseits. Andererseits helfen wir, die Crashkosten zu reduzieren, indem wir aussagekräftige Ergebnisse beisteuern. Gut, mein Vorgänger kostete nur 150.000 Euro, aber ich bin meinen Preis wert. Ich verfüge etwa über einen eigenen Akku, damit müssen keine Kabel aus meinem Becken durch die Fahrzeug-Rückbank und den Kofferraum geleitet werden. Ich speichere einfach alle Daten, und nach dem Crash geben ich sie weiter. Sehr bequem. Nach jedem Versuch werden wir geprüft, alle Sensoren gecheckt. Dann geht’s wieder los, oft sechs Mal hintereinander. Danach ist wieder Kalibrieren angesagt, also das Justieren und Einstellen. Das sollte Ihnen die Gesundheit Ihrer Spezies schon wert sein.
Sie sollen sehr empfindlich sein…
Oh, wer sagt das denn? Ja, also, ich empfange Daten an etwa 80 auswertbaren Sensoren. Messen die Ingenieure die Beine mit, sind es gut 100. Gemessen werden Beschleunigungen, Kräfte, Eindrückungen am Körper, Drehmomente… Die Sensoren kleben überall, an Kopf, Nacken, Becken, Brust, Wirbelsäule, Beine, sogar im Gesicht. Manchmal ist das schon lästig. Zusätzlich werden verschiedene Farben auf meinem Körper verteilt. So sehen die Techniker, mit welcher Stelle der Kopf auf dem Airbag landet und wo die Knie am Armaturenbrett anschlagen. Manchmal werden auch Rippen und das Becken angemalt. Das alles dient der Fahrzeug-Entwicklung: So sieht man, wo sich ein Mensch verletzten könnte. Allerdings liefern wir Dummys lediglich Messwerte. Um herauszufinden, welche Verletzungen bei einem Menschen verursacht würden, gilt es weitere Versuche zu fahren und die Messergebnisse unter Berücksichtigung der Konstitution des Einzelnen, also Alter, Größe und so weiter, zu interpretieren.
Wie oft müssen Sie arbeiten?
Die Zuschauer sehen ja nur den kurzen Auftritt in der Crashhalle. Aber die Vorbereitung, die dauert. Es müssen Pläne geschrieben werden, Fahrzeuge gekauft und vorbereitet, die Halle gebucht, Positionen besprochen und festgelegt sein. Nach dem Crash kommt dann die Auswertung. Pro Crash vergehen so schnell ein paar Tage. Im Schnitt fährt im ADAC Crashzentrum jede Woche einer von uns an die Wand oder wird in einem Auto zusammengefaltet.
An welchen Crash erinnern Sie sich besonders gern?
An viele, die meisten sind sehr aufregend. Großartig war das Abwurf-Motorrad 2007. Wir ADAC Dummys sprangen damals regelmäßig und als Erste überhaupt vom fahrenden Motorrad ab. 30 Mal! Dabei war das Fallen weniger schwierig als das zunächst Sitzenbleiben. 2007 kam der Crash des chinesischen Autos Brilliance, eines der ersten Fahrzeuge, die China nach Deutschland importierte. Mein lieber Scholli! Da erreichten die Dummy-Kollegen ihre Grenzen. Die Fahrgastzelle des Brilliance brach völlig zusammen. Der Dummy musste auseinander geschraubt werden, um wieder aus dem Wrack zu kommen.

Gibt es Lieblingsfahrzeuge, mit denen Sie gerne arbeiten?
Ja, inzwischen sind die 5-Sterne EuroNCAP-Autos alle sehr, sehr sicher. Da fühlt man sich auch als Dummy gut drin. Fast gemütlich.
Darf ich Sie fragen, wie alt Ihre Spezies normalerweise wird?
Im Schnitt werden wir so 30 bis 40 Jahre alt. Im Grunde sind wir unzerstörbar. Ab und an ein neues Einzelteil, Gummihaut straffen, Metallgelenk ölen, dann geht es weiter. Der Nachfolger kostet ja immer mehr als das kontinuierliche Reparieren der kleinen Unfallfolgen. Und die Kinder werden nicht so schnell groß wie die Menschenkinder. 900 bis 1000 Crashs stehen wir im Schnitt durch. Dann werden wir ersetzt.
Man sagt, in Ihrer Branche sei es mit der Gleichberechtigung nicht so weit her?
Weil es so wenig weibliche Dummys gibt? Nun, das ist eher ein zwischenmenschliches Problem als eines in unserer Familie. Tatsächlich scheint der Durchschnitts-Dummy zwar männlich. Aber es kommt auf anatomische Formen bei einem 64 km/h-Frontalcrash nicht an. Und dem Durchschnittsgewicht entsprechen eben nicht viele Menschen genau. Genauso wenig wie der definierten Größe. Unsere Frauen haben den Job übernommen, einen weiteren Frontalaufprall durchzuführen. Sie sind kleiner und leichter als wir Männer und können daher weitere Informationen zur Sicherheit liefern.
Wie groß ist die ADAC Dummy-Familie?
Wir sind acht Erwachsene und neun Kinder, eine nette Gruppe: ich, zwei Hybrid III 50%, dazu zwei Hybrid Frau 5%, zwei Seitenaufprall-Dummys der Euro SID und WorldSID. Für den Heckaufprall haben wir unseren Spezialisten, ein BioRID, und sogar ein Neugeborenen-Dummy Q0, dazu Q1, zwei Q1,5 und zwei Q3, einen Q6, einen Q10. Die Zahl steht immer für das simulierte Alter. Dahinten sitzt eine Gruppe älterer Modelle, die sind kaum noch im Einsatz, ein Haufen Kinder, insgesamt drei P1,5, P3, P10. Dann haben wir eine E-Scooter-Fahrerin, Radfahrer mit bewegten Beinen, Fußgänger. Ich finde, das sind eher Platzhalter als Dummys. Sogar einen Rescue-Randy können wir bieten. Der kann eigentlich gar nichts, der ist nur schwer. Rescue-Randy ist etwa für Feuerwehr-Übungen gut. Einen 80-Kilo-Körper aus einem Auto zu bergen, muss man erst mal schaffen. Ach ja, ein paar Körperteile wie Beine oder Köpfe schießen die Ingenieure ab und an auf stehende Autos, um den Fußgängerschutz zu testen. Dann wären da noch die dreidimensionalen Fahrzeugteile und das aufblasbare Fahrzeugheck. Mit denen haben wir aber nicht so viel Kontakt. Sogar ein Wildschwein gibt es, das zählt aber nicht wirklich, ist eher eine Attrappe. So, und jetzt muss ich los, der Kindersitz-Crashtest beginnt pünktlich.
Vielen Dank für das Gespräch.
Peter Lukas, Dummy-Techniker beim ADAC, lieh Thor seine Stimme. Er hat etwas dagegen, die Dummys zu vermenschlichen. Namen haben sie alle keine.
Hier lest ihr, wie der ADAC einen Crash mit einem Wildschwein simuliert hat.